Die Schweizer Industrie verarbeitet fast 120’000 Tonnen Edelstahl pro Jahr. Damit ist sie eine der größten Verbraucherinnen dieses Metalls in Europa. Besonders die Uhrenindustrie hat begonnen, diesen Rohstoff zu rezyklieren.
Der Recycling-Hof Precyling in Reconvilier im Berner Jura sieht aus wie viele andere in der Schweiz. Im Innenhof hängt ein Autowrack am Kran, es erlebt gerade seine letzten Stunden. Daneben warten Dutzende von Kubikmetern Holz, Papier, Karton, leere Flaschen und andere Materialien darauf, ihrer fachgerechten Wiederverwertung zugeführt zu werden.
Ins Auge sticht gegenüber diesem sorgfältig sortierten Durcheinander jedoch das imposante Verwaltungsgebäude. Hochsicherheits-Räume, Panoramafenster, Designersessel und ein mit einem grossen Bildschirm ausgestattetes Sitzungszimmer: Das alles passt nicht zum Bild, das man normalerweise von einem Recyclinghof hat. “Wir mussten unsere Standards anpassen an die Welt der Uhrmacherei “, sagt Alexandre Haussener, der Chef von Precycling.
Jedes Jahr zerlegt das Berner Unternehmen nebst den üblichen Arbeiten vertraulich auch Hunderttausende von Uhrenbestandteilen, angeliefert von rund zwanzig Uhrenmarken aus der Region. Dabei handelt es sich größtenteils um unverkaufte Uhren. Sie wurden vom Markt genommen, damit der Graumarkt nicht gefüttert wird.
Teils handelt es sich aber auch um fabrikgefertigte Teile mit Mängeln. Die verschiedenen Metalle – Gold, Silber, Titan, Stahl und mehr – werden sorgfältig sortiert, oft von Hand, bevor sie geschreddert und der Wiederverwertung zugeführt werden.
“Vor einigen Jahren wurden die überschüssigen Bestände der Uhrenfirmen oft noch mit Walzenkompressoren zerkleinert. Die Sortierung war sehr einfach“, sagt Gilles Fischer, technischer Leiter von Precycling.
Das Gold des Juras
Die Uhrenindustrie ist nicht der erste Schweizer Wirtschaftszweig, dem Defizite im Bereich der Nachhaltigkeit vorgeworfen werden. Der Rohstoffhandel und das Finanzwesen sind viel stärker unter Beschuss. Ein 2018 vom WWF veröffentlichter Bericht äußerte sich jedoch sehr kritisch in Bezug auf die sozialen und ökologischen Auswirkungen der Industrie, diese seien “viel schwerwiegender als es auf den ersten Blick scheinen mag”.
Dabei geht es einerseits um den Bedarf an großen Mengen kostbarer Rohstoffe, aber auch um die mangelnde Transparenz der meisten Uhrenhersteller. Beide Faktoren bezeichnete die Umweltorganisation als “äußerst besorgniserregend”.
Doch das ändert sich allmählich. Am anderen Ende des Entsorgungshofs von Reconvilier, in einer grossen, halb überdachten Lagerhalle, finden sich mehrere Kübel, die bis zum Rand mit Spänen gefüllt sind. Sie stammen aus der Metallbearbeitung mehrerer Unternehmen der Region.
“Dieser Stahl des Typs 4441 wird zur Herstellung von Teilen für die Uhrenindustrie und in der der Medizinaltechnik verwendet”, sagt Fischer. “Das ist das schwarze Gold des Juras.” Er zeigt auf die Tonne mit den dunkelsten Spänen.
Der in Reconvilier zurückgewonnene Stahl – mehr als 20 Tonnen pro Monat – wird zu den Öfen des Werks Ugitech in Savoyen transportiert, wo er eingeschmolzen und in bearbeitbaren Stabstahl umgewandelt wird, bevor er in der Schweizer Industrie wiederverwendet wird. Die jurassische Uhrenmanufaktur Panatere steht hinter diesem landesweit ersten Verfahren für rezyklierten Edelstahl.
Das Rezept heißt Regionalisieren
“Stahl ist das am häufigsten verwendete Rohmaterial in der Uhrenindustrie. Allein dieser Industriezweig verbraucht fast 9000 Tonnen davon pro Jahr”, sagt Raphaël Broye, Gründer von Panatere.
Die fast 1500 Tonnen Stahlspäne, die bei der Bearbeitung von Uhrenteilen anfallen, werden in der Regel jedoch nach China geschickt, wo sie eingeschmolzen und zu Barren von mittelmäßiger Qualität recycelt werden. “Das ist sowohl ökologisch als auch wirtschaftlich ein Irrweg”, sagt Broye.
Nach den Berechnungen seines Unternehmens verursacht recycelter Stahl sechsmal weniger CO2 als konventionell hergestellter. Dies ist ein starkes Argument in einer Zeit, in der auch die Uhrenindustrie über ihre Maßnahmen zugunsten des Klimas und der Umwelt Rechenschaft ablegen muss. Der Anstieg der Rohstoffpreise und die Lieferschwierigkeiten infolge der Coronavirus-Krise haben dem Projekt des jurassischen Unternehmens ebenfalls Auftrieb gegeben.
“Wir stehen in Kontakt mit großen Uhrmacherkonzernen, die an unserem rezyklierten Stahl interessiert sind”, sagt Broye. Regionalisierte Produktion werde für die Schweizer Uhrenindustrie zweifelsohne das Schlagwort der nächsten Jahrzehnte sein, schätzt er.
Der Panatere-Inhaber will als nächstes in der Region einen industriellen Solarofen bauen. Die Kosten dürften sich auf fast zehn Millionen Franken belaufen. Theoretisch wäre es dann möglich, den rezyklierten Stahl unendlich wiederzuverwenden, alles in der Schweiz.
Die erste Recycling-Uhr aus Stahl
Das Startup ID Genève hat soeben die erste aus diesem rezykliertem Stahl hergestellte Uhr auf den Markt gebracht. Die 300 Exemplare des Modells Circular 1 wurden im Rahmen eines Crowd-Fundings im Dezember 2020 in weniger als 48 Stunden verkauft.
Die für 3500 Franken verkaufte “Circular Swiss Made“-Uhr verfügt neben seinem rezyklierten Gehäuse über ein generalüberholtes, wiederverwendetes Uhrwerk, dazu ein Armband aus Traubentrester.
“Wir haben ein ausgezeichnetes Feedback von unseren Kunden erhalten“, sagt Nicolas Freudiger, Co-Gründer von ID Genève. Die meisten seien “Millenials”, die ihren Aktivismus am Handgelenk zeigen. “Sie wollen nicht einfach einen protzigen Gegenstand tragen, der für Reichtum steht.”
“Ein großer Teil der traditionellen Schweizer Uhrmacherkundschaft, vor allem in den asiatischen Ländern, sträubt sich heute noch gegen die Idee, prestigeträchtige Uhren aus rezyklierten Materialien zu tragen”, räumt Freudiger ein. Studien zeigen jedoch, dass Nachhaltigkeit ein zunehmend wichtiges Kriterium für den Kauf einer Uhr wird, auch im Luxussegment.
Precycling-Chef Haussener glaubt, dass diese Bewegung bereits eingesetzt hat. Er ist zuversichtlich, was die Zukunft seines Unternehmens angeht. “Wir sind auf dem Weg zu einer viel ökologischeren und nachhaltigeren Uhrenindustrie. in einigen Jahren wird rezyklierter Stahl bei den meisten Schweizer Uhrenherstellern Standard sein”, sagt er.
Beitrag mit freundlicher Genehmigung von © by swissinfo, Samuel Jaberg, Céline Stegmüller